„Ur-Musig“ - Auf den Spuren nach den verschütteten Wurzeln

von Louis Mettler für 'APPENZELLER ZEITUNG' 30.8.1993

Nach Luzern und dem Filmfestival Locarno feierte Cyrill Schläpfers Film „Ur-Musig“ am Wochenende in Stein „Appenzeller Premiere“ - vorab für die mitwirkenden Musikanten.

Worte sind in Cyrill Schläpfers neuem Film “Ur-Musig“ rar. Zwar sind sie nicht puristisch vermieden worden, aber verschwinden hinter jenem, was prägt: Den Klängen und Bildern.

Abgeholt werden wir vom Wind, der durch eine Appenzeller Alplandschaft ächzt und in eine Art Urklang übergeht, einen Ton, wie ihn die Natur in Facetten und Spielarten bereithält, und den die Menschen seit je nachahmten. Das Heulen eines Hundes, das Glockengebimmel einer Herde, der Ruf des Senns nach dem Vieh, der Wind, das Donnerkrachen eines Gewitters - sind Spuren zu jenen Klängen aus Männer- und Frauenkehlen, Örgeli, Hörnern und Geigen, die in der Folge den Film prägen werden und sind mit diesen untrennbar verbunden.

 Spurensuche

Cyrill Schläpfer ist auf Spurensuche gegangen - und ist fündig geworden. Material für manchen Film wäre vorhanden, und in der Innerschweiz wie im Appenzellerland sind stets die grossartigen Bilder von Landschaft, Menschen und Vieh mit den Klängen eins - zu klanglichen Landschaften, zu Klängen für Auge und Ohr.

Doch nicht jene „Chumm und lueg“-Stimmung kommt auf, keine bier- und weinselige „Hau-dröberabe-Seligkeit“. Denn nicht die Musik der alpenländischen Volksmusikhitparaden ist Sache des Films. Ziel der Erkundungen ist vielmehr der Urgrund der Musik.

Wen verwundert es da, wenn beim Juuz „Guggeli-Peters“ aus dem Muotathal mit den Seinen eher Assoziationen zu kirchlichen Chorälen oder afrikanischen Ritualen aufkommen als zu einem Jodlerkonzert. Was scheinbar als falsch in unsere perfektionsverbildeten Ohren gelangt, entpuppt sich beim näheren Hinhören als markdurchdringend schön und ungeschönt echt.

 Exemplarisch

Vom Urnäscher Silvesterklausen über das „Nüssle“ im Kanton Schwyz bis zum magischen Klausjagen in Küssnacht am Rigi zitiert der Film immer wieder Brauchtum und seine Klänge: Zäuerli, Jüüzli, Peitschenknallen, Trommeln. Dass der Regisseur selber jahrelang trommelte, Schlagzeug spielte, sich (unter anderem mit Walter Alder) am Hackbrett ausbildete und Schwyzerörgeliunterricht bei Rees Gwerder nahm, verhindert nicht den kritischen Zugang zum Thema. Vielmehr zeigt es intensive Auseinandersetzung statt hektischer Recherche.

Der bereits zu Lebzeiten legendäre Rees Gwerder nimmt denn auch eine der Hauptrollen ein als brissagorauchender Schwyzerörgeler, und immer wieder blendet der Film ins Appenzellerland, zeigt Stimmungen beim Schaftrieb, beim „Öberefahre“, beim Viehmarkt oder einer Stobete. Vater Jakob Düsel beispielsweise beim Üben mit seiner musikalischen Familie in der Wohnstube, die Streichmusik Edelweiss Herisau im Napoleon-Säli der Hundwiler „Krone“, eine ad-hoc Formation um Noldi Alder auf der Bollenwees oder den Speicherer Hans Sturzenegger beim Hackbrett-Zäuerli.

 Beten und arbeiten

Mit fast litaneienhafter Penetranz bringt der Film verschiedenste Sennen beim Alpsegen in Bild und Ton. So oft, dass plötzlich die Worte mit der Anrufung des heiligen Antoni, dem Isidor und wie sie alle heissen, in den Hintergrund treten und jenem sphärischen Urklang Platz machen, der an der gegenüberliegenden Felswand seinen Resonanzkörper findet. Beim Holzen, Melken, Viehtreiben, Heueinbringen oder Beschlagen der Hufe mischen sich die Klänge von Wind, Wetter und Tieren mit den Gesängen der Menschen, die hier arbeiten. Oft, so scheint es, sind es Klänge gegen die Angst, wie sie etwa zu hören sind, wenn sich ein Kind selber in den Schlaf singt. So lüpfig und lustig der ein oder andere Tanz, wo wehmütig klingt hier und dort ein Zäuerli oder Juuz.

Und unweigerlich bringen die Nahaufnahmen dieser markanten, lebendigen Gesichter, die Totalen der unwegsamen Gelände und der Wetterlaunen, der harten Arbeit und dem verdienten Beisammensein danach die Ahnung mit, dass dies eine Welt ist, der das Aussterben droht. Dann nämlich, wenn die Kette der Überlieferung abreisst, wenn Melkmaschine, Geländewagen und Stadtflucht Aufmerksamkeit und Zeit für die Wurzeln der eigenen Identität nehmen.

Cyrill Schläpfers Film ist ein ebenso pointiert-humorvolles wie melancholisch-erschreckendes Meisterstück gegen die Gefahr - Kunstwerk und Zeitdokument zugleich, „mit Respekt den traditionellen Musikern, den naturverbundenen Berglern und den sturen, querstehenden Grinden aus dem Appenzell, dem Muotatal und der Innerschweiz“ gewidmet. - Und die Gelassenheit, die bereits durch den ganzen Film geleitet hat, bring Örgeler und Komponist Rees Gwerder zum Schluss beiläufig unter im Satz: „s‘isch wie‘s isch!“.

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