Blues aus dem Bluemetrögli

von Peter Rüedi für 'Weltwoche' vom 26. September 1991

 

Alles hängt mit allem zusammen, wissen wir, oder nichts mit nichts. Was hier und heute unter jazzverheissender Kolumne sozusagen mit dem heiligen Feuer eines Alpsegens ausgerufen sei, hat allerdings mehr damit zu tun, als der gewöhnlich in anderen Regionen der Plattengeschäfte nach seinen schärferen Essenzen ausspähende Jazzfreak auf den ersten Blick oder Ton glauben möchte. Wenn alle Wege nach Rom respektive nach Newyorknewyork führen, so enden auch alle im Muotathal. Oder auf dem Gängigerberg ob Arth.

Dieser Vorspruch, wie jede direkte Adresse an den geneigten Leser spätestens seit dem Todesjahr von Johann Peter Hebel verpönt (weder Hebel noch Kleist überstünden auch nur die erste Runde im Aufnahmeverfahren einer heutigen Journalistenschule, dies nebenbei) - dieser Vorspruch ist unerlässlich, wenn einem tit. Jazzpublikum allen Ernstes eine Scheibe mit Schweizer, mit Schwyzer Volksmusik empfohlen werden soll. Denn was von gequält in die Kamera lächelnden Ländlerformationen an den Volksmusikabenden des Fernsehens von klotzigen chromatischen Handorgeln oder auf süsslich fistelndem Sopransax uns ins Ohr gesülzt wird, zwischen vom Bühnenbildner kunstvoll arrangierten Scheiterbeigen und bluemeten Trögli, ist in den allermeisten Fällen dazu angetan, auch den bestwilligen Grenzüberschreiter endgültig nur noch den «A-Train» besteigen zu lassen. Er fährt tatsächlich in die entgegengesetzte Richtung von jenem Bähnli, das anlässlich sommerlicher Jazzmeisterschaften den Schweizer Fernsehzuschauer von einer volksmusikalischen Unsäglichkeit zur nächsten dampfte («Chömezimitundstigeziii»).

Dagegen ist das, was dank der Anstrengungen des Produzenten Cyrill Schläpfer vom Gängigerberg auf uns Flachländer kommt, die während einer dreitägigen Session in dessen Stube aufgenommene Musik des Schwyzerörgeli-Methusalems Rees Gwerder, die, wahre Wucht des Authentischen. Die wahrzunehmen, so absurd das scheint, wären mit Jazz oder «Jazz» oder allen interkulturellen Weitungen in die Musikethnologien befassten Hörer geradezu prädestiniert. Was das an den garantiert pasteurisierten und wohltemperierten Hudigäggeler gewöhnte Ohr als Fehler hört von Gwerders kühnen, ja zuweilen brachialen Modulationen bis zu seiner Vorliebe, den (vom Grundton aus) vierten Ton auf den Kreuz- beziehungsweise Halbtönen erhöht zu spielen, erkennt er schnell als gewollte Eigenheit urtümlichen Musizierens. So ist die erhöhte vierte Stufe nichts anderes als der Versuch, auf der Schwyzerorgel (die ist, nicht anders als das Bandoneon, eine Erfindung des 19. Jahrhunderts) sich der Naturtonreihe anzunähern, über den keltischen Roots gewissermassen das berühmte Alphorn-Fa leuchten zu lassen. Wie das achtzigjährige «letzte Rauhbein der Schweizer Volksmusik», befeuert von etlichen «Kaffee Rees» (Weinkaffee mit fünf Stück Zucker) und schweren Prisen Schnupftabak, die Bässe schleifen lässt und dagegen die Melodie nicht hudigäggelermässig runterzickt, sondern in einer schönen keltisch-alpinen Agogik dagegensingt, das macht begreiflich, weshalb Volksmusikarchäologe Schläpfer sein Label in unprofessoraler Ironie «Schwing» nennt.

Solches zu hören braucht ein bisschen Übung, ist aber, wie angemerkt, für den an Blue Notes und Flatted Fifths und nahöstliche und nordafrikanische Modalitäten gewohnten Hörer bald erkennbar, bei aller scheinbaren Harmlosigkeit des Materials, der alten Masollker, Walzer, Jüüzli, Schottisch und «Stümpeli» (kurze, zweiteilige Tänze). Gwerder hat sie alle nur übers Gehör gelernt; es ist absehbar, dass er auch in seinem neunten Lebensjahrzehnt nicht Noten lesen lernen wird. Um so wertvoller ist, dass Schläpfer das, was er «eine Art wandelnde Phonothek» nennt, das immense Repertoire, das Rees von seinem Vater und anderen Ahnen des Schwyzerörgelis wie dem «Egg-Basch» (Georg-Anton Langenegger), dem «Lieneler» (Lienhard Betschart) oder Alois Suter, dem «Elisabethler» gelernt hat und weitergibt, dokumentiert eine der letzten Relaisfiguren des Authentischen und somit ein originaler Fels im Sumpf eines reaktionären, traditionsvergessenen Swiss-Folklore-Business. Die Aufnahmen, im Wohnzimmer von Gwerders Heimet auf dem Gängigerberg aufgenommen, profitieren vor der besonders lockeren Atmosphäre (Rees bricht auch schon mal einen verunglückten Lauf mit einem geknurrten «Gopfertekkel» ab), von der Vertrautheit mit den Mitmusikern (Peter Ott am Bass und vor allem Ludi Hürlimann am anderen Örgeli), vom Respekt und der Begeisterung, welche ein Produzent aus einer anderen Generation dieser Musik entgegenbringt. Er ist in der Lage von uns allen, die wir solcher Volkskunst gegenüber ein «sentimentalisches» Verhältnis haben. Insofern mag eine Projektion sein, was er in dem die Platte begleitenden Informationsmaterial schreibt - meinen eigenen Eindruck.

So nimmt der Blick von aussen die alten Konturen besser wahr als die Optik derer, die als die Sachwalter des Bodenständigen längst ein Surrogat desselben gewinnbringend multiplizieren. Ein Produzent wie Schläpfer tat not. Es kann ja nicht sein, dass die einzigen, die sich ernsthaft um die originale alpenländische Folklore kümmern, französische Musikethnologen sind. Ein zweites, freilich noch sperrigeres Produkt Schläpfers liegt schon vor: «Zäuerli», Naturjodel aus Urnäsch AR, bei minus 15 Grad live aufgenommen beim «Silvesterchlausen» 1990 und 1991.

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